In den Jahren 1952 bis 1956 entstehen am Göttinger Soziologischen Seminar die Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer und damit zugleich die erste große sozialwissenschaftliche Studie zur Situation der deutschen Universitäten. Das Herzstück dieser alle Fächer und Fakultäten umfassenden Untersuchung bildet der Komplex der „Nachwuchsfragen“. Zu diesem Zeitpunkt ist der universitäre Mittelbau eine vergleichsweise junge Erscheinung. Dass er bereits in den hochschulpolitischen Reformdiskussionen der Nachkriegszeit in den Fokus gerät, ist auch den drastischen Befunden der Studie geschuldet.
Die AutorInnen, die größtenteils selbst auf prekären Assistenz- und Hilfskraftstellen tätig waren, hielten damals fest, dass es unter diesen Bedingungen vielen darum ginge, „die Vorstufen des Ordinariats möglichst rasch zu durchlaufen. Es entwickelt sich deutlich ein ‚Karrierebewusstsein‘. Zwischenstufen eines ‚geachteten Verweilens‘, wie sie etwa England die Lecturers einnehmen, gibt es nicht. Wer nicht Ordinarius wird, betrachtet sich materiell und ideell als ‚gescheitert‘. / Zwang zur Leistung, Konkurrenz ohne Freiheit zum Ausweichen und Spezialistentum werden immer ausschließlicher zu Kennzeichen wissenschaftlicher Tätigkeit an unseren Hochschulen – drei Momente, deren Reflex vielfach in Isolierung und Entfremdung, ähnlich wie in einem modernen Großbetrieb, zu erkennen ist.“
Dass diese Sätze auch in einem zeitgenössischen Kommentar zur Situation der deutschen Hochschulen und ihrer Reformen stehen könnten, gibt zu denken: Inwiefern ist die Krise der Universität eine Krise des wissenschaftlichen Nachwuchses? Wie gestalten sich Kooperations- und Abhängigkeitsbeziehungen in einer Institution, die bis heute in unklarer Weise zwischen den quasi-ständischen Prinzipien der Ordinarienuniversität und der arbeitsteiligen Wirklichkeit eines bürokratischen Großbetriebes verortet bleibt? Welche Alternativen zu einem Prekarität und Konformität begünstigenden akademischen Kapitalismus mit undemokratischen planwirtschaftlichen Elementen gibt es?
Das Göttinger Institut für Soziologie lädt Sie/Euch alle recht herzlich dazu ein, diese Fragen im Rahmen des Institutskolloquiums im Wintersemester 2019/20 zu diskutieren.
Geplantes Programm:
13.11.2019 12-14 Uhr (VG 4.104): Oliver Römer und Peter Birke (Universität Göttingen)
„Historische und aktuelle Thematisierung ‚exzellenter‘ Prekarität in Göttingen und darüber hinaus. Die ‚Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer‘ (1952-1956).“
20.11.2019 12-14 Uhr (VG 4.104) Daniela Heitzmann
Universität Göttingen
„Hochschule, Gender und Diversity. Theoretische Zugänge und empirische Bestandsaufnahme“
11.12.2019 18-20 Uhr (VG 2.104) Ulf Banscherus
Technische Universität Berlin
„Arbeitsbedingungen des wissenschaftsunterstützenden Personals. Resultate einer empirischen Befragung“
15.01.2020 18-20 Uhr (VG 2.104) Frauke Banse und Alexander Gallas Universität Kassel
„Industrielle Beziehungen an der Hochschule? Die Rolle betrieblicher und gewerkschaftlicher Interessenvertretung in der Kampagne ‚Uni Kassel Unbefristet‘“.
29.01.2020 12-14 Uhr (VG 4.104) Tilman Reitz
Universität Jena
„Projektförmige Polis und akademisches Prekarität. Zur Debatte um Beschäftigungsverhältnisse und Karrierewege in der deutschen Soziologie“
05.02.2020 18-20 Uhr: Podiumsdiskussion zum Thema:
„Nachwuchsfragen – aktuelle Perspektiven in Göttingen und darüber hinaus“